Wandern
Logenplatz über dem Alpenfjord
Grandios ist der Tiefblick vom Gratweg Stoos zum Vierwaldstättersee. Der Höhenweg führt vom Chlingenstock hinüber zum Fronalpstock. Auf dessen Gipfel zeigt sich: Auch die Schweiz hat ihre Fjordlandschaft.
Erst kurz vor dem Abgrund stoppt die Bahn. Unten im Dorf sind wir in den Sessel gestiegen, um über Blumenteppiche, Alpweiden und Bergwälder in die Höhe zu schweben. Immer weiter hinauf fahren wir, immer luftiger wird die Aussicht, bis wir die Bergstation erblicken und dahinter weder Bäume noch Wiesen erkennen, sondern einen Abgrund: Wir schauen in ein tiefes Tal, über das sich der blaue Himmel wölbt.
Abenteuerliche Bergfahrt
Die Fahrt mit der Sesselbahn von Stoos auf den Chlingenstock ist heute bereits unser zweites Abenteuer. Begonnen hat unsere Tour mit einer ganz anderen Art von Bahn. Unten im Talboden des Muotatals sind wir in eine Anlage gestiegen, die gar nicht nach Standseilbahn aussah: Die einzelnen Abteile waren nicht schräg übereinander, sondern schön harmlos horizontal hintereinander angeordnet. Doch als sich das Gefährt in Bewegung setzte, richtete es sich mit einer Neigung auf, die uns geradezu unwahrscheinlich vorkam. War die Nachbarkabine vor der Abfahrt noch direkt vor uns, so blickten wir jetzt wie von einem Balkon auf sie hinab. Weit unten in der Tiefe sahen wir die Talstation. Hundertzehn Prozent beträgt das Gefälle der Stoosbahn im steilsten Abschnitt. Das ist Weltrekord. Nirgendwo sonst auf der ganzen Welt gibt es eine Bergbahn, die noch steiler wäre.
Jetzt aber sind wir oben angelangt, rutschen vom Polster der Sesselbahn und haben wieder festen Boden unter den Füssen. Weit oben, ja sogar ganz oben sind wir, nämlich nur wenige Meter unterhalb des Chlingenstockgipfels (1935 m). Mit wenigen Schritten erreichen wir diesen. Dank der bequemen Anreise mit den beiden Bahnen können wir unsere Wanderung somit gleich auf ihrem höchsten Punkt beginnen.
Hier präsentieren sich die Berge des Kantons Schwyz in leuchtenden Grüntönen: Vom Chlingenstock (1935 m, links) geht der Blick über den Sisiger Spitz (1914 m, Mitte) bis zu Höch Turen (2666 m) und Ortstock (2716 m) auf der Glattalp (hinten). Thomas Senf
Auftakt mit Pause
Aber bevor wir richtig losziehen, wollen wir erst einmal das kolossale Panorama ausgiebig bestaunen. Holzbänke und ein grosser Tisch stehen bereit. Wir setzen uns, obwohl es natürlich ein bisschen seltsam ist, schon zu rasten, bevor die Wanderung richtig angefangen hat. Doch einen solchen Anblick hat man nicht alle Tage vor Augen. Einige Meter von uns entfernt steht ein Zaun, dahinter geht es runter, und zwar ziemlich rabiat: Das Terrain senkt sich um gut tausend Meter.
Als Stock wird im Schweizerdeutschen ein Baumstumpf bezeichnet – oder ein Berg, dessen Kuppe wie ein Strunk geformt ist. Anders als ein Horn ist ein Stock somit nicht spitzig. Dennoch kann er die eine oder andere exponierte Flanke aufweisen, wie es auch beim Chlingenstock der Fall ist. Er fällt gegen Süden in Felswänden und stotzigen Geröllfeldern ab.
Der markante Einschnitt zu unseren Füssen ist das Riemenstaldner Tal. Auf der gegenüberliegenden Seite wird es von einer Kette spitzer Gipfel umschlossen, deren markanteste Erhebungen der spitze Felszahn des Chaiserstocks (2515 m) und der uns direkt gegenüberliegende Diepen (2222 m) sind. Im Hintergrund reckt sich die schneebedeckte Gross Windgällen (3187 m) in den Himmel. Erst recht eine Augenweide ist das Panorama gegen Westen hin. Dort senkt sich das Riemenstaldner Tal zum Vierwaldstättersee hin. Weit unten in der Tiefe können wir einen kleinen Zipfel des Urnersees ausmachen. Darüber erheben sich die schneebedeckten Gipfel der Urner und der Berner Alpen.
Das Ziel unserer Wanderung ist der Fronalpstock. Sein Gipfel liegt nur wenige Meter tiefer als der Chlingenstock, in der Luftlinie ist er bloss drei Kilometer entfernt. Deshalb erscheint er uns zum Greifen nah. Allerdings ist das eine Täuschung. Die beiden Berge sind durch den Gratweg Stoos miteinander verbunden. Dieser gilt als einer der aussichtsreichsten Höhenwege der Zentralschweiz. Doch auf einem Höhenweg zu wandern, bedeutet nicht, dass man ohne Höhendifferenzen unterwegs ist. Uns erwarten in den folgenden zwei Marschstunden Auf-und Abstiege von insgesamt je rund vierhundert Höhenmetern.
Auf Schritt und Tritt begegnet man auf dem Gratweg Stoos einer vielfältigen Blumen- und Insektenwelt. Thomas Senf
Höhenweg von Stock zu Stock
Nachdem wir die grandiose Aussicht tüchtig ausgekostet haben, nehmen wir unsere Wanderung auf. Anders als sonst in den Bergen beginnt sie mit einem Abstieg. Er führt uns zunächst auf einem gut ausgebauten Kiesweg zu einem breiten, mit Gras überwachsenen Felsrücken, dem Rot Turen (Roten Turm). Dort steht bereits der nächste Picknicktisch bereit, bei dem man eine aussichtsreiche Rast halten könnte. Darauf verzichten wir aber, denn jetzt sind unsere Beine gerade so richtig in den Wandermodus gekommen. Das Gefälle nimmt nun noch etwas zu, der Weg ist zweckmässigerweise mit zahlreichen Stufen ausgestattet. Diese reihen sich zu einer langen Kette aneinander, die sich über die Alpweiden sanft abwärtsschlängelt.
Jeder Schritt vermittelt uns ein majestätisches Gefühl: So muss ein König empfinden, der über die breite, geschwungene Treppe seines Palasts hinab in den Empfangssaal schreitet. Am unteren Ende der Naturtreppe erwartet uns freilich keine Audienz mit Untertanen und Bittstellern, sondern ein wahres Blütenmeer. Bergblumen in allen Farbtönen locken unzählige Insekten an. Leises Summen und ein zarter Hauch von Honigduft erfüllen die Luft.
In wiederholten leichten Auf-und Abstiegen gelangen wir in die Flanke des Huser Stocks. Nach und nach rückt ein grosser Teil des Urnersees mitsamt dem Rütli ins Blickfeld. Auch den Pilatus und das Buochser Becken des Vierwaldstättersees können wir erkennen. Immer wieder kommen wir an Ruhebänken vorüber, die an besonders aussichtsreichen Plätzchen stehen.
Begegnung vor dem letzten Aufstieg zum Fronalpstock: Bei Furggelen (1731 m) steigt eine kleine alpine Karawane aus dem Frontal auf. Thomas Senf
360-Grad-Panorama am Ziel
Der Wanderweg ist breit und bestens ausgebaut, die meist geringen Steigungen überwinden wir dank unzähligen Holzstufen ohne Schwierigkeiten und ohne grosse Anstrengung. Wo der Weg etwas exponiert ist, wird er von Metallketten und Geländern gesäumt. So können wir die Aussicht unbeschwert und gefahrlos geniessen.
Der Fronalpstock scheint nur noch einen Steinwurf entfernt zu sein, doch ehe wir unser Ziel erreichen, müssen wir uns doch noch etwas anstrengen. Steil geht es hinunter in den Einschnitt von Furggelen und dann ebenso stotzig wieder aufwärts. Auf den letzten Metern unseres Aufstiegs zum Fronalpstock beginnt sich ein optisches Schlussbouquet zu entfalten, indem sich die Sicht unglaublich weitet. Sowohl die fjordartig verzweigten Arme des Vierwaldstättersees als auch Alpnacher und Luzerner Seebecken zeigen sich jetzt.
Vollends umfassend wird die Rundsicht auf der breiten, lang gezogenen Kuppe des Fronalpstocks. Nun sehen wir auch die Rigi, den Zugersee und den Lauerzersee. Am Horizont präsentiert sich zudem eine beachtliche Gipfelparade vom Säntis über die Glarner und die Urner Alpen bis zu den Berner Hochalpen. Gleichzeitig wird deutlich, dass auch der Fronalpstock zwei Gesichter hat: Mit nur mässig steilen, grasüberwachsenen Hängen richtet er sich über dem weiten grünen Trog von Stoos auf, doch seine hintere Seite ist von steilen und unwegsamen Halden durchzogen. Entsprechend spektakulär ist der Blick in die Tiefe. Für uns ist klar: Unsere Tour endet auf einem veritablen Logenplatz.
Steckbrief Gratweg Stoos
Start und Ziel Ab «Schwyz, Stoosbahn» mit Standseilbahn und Sesselbahn auf den Chlingenstock (1935 m), über Furggelen (1731 m) auf den Fronalpstock (1921 m), von dort mit Sesselbahn und Standseilbahn zurück ins Tal Distanz 4,6 km Gehzeit 2 h Höhenmeter 380 aufwärts, 400 abwärts Einkehr Auf dem Fronalpstock Tipp Zusätzlich je 15 Minuten Marschzeit für den Weg zwischen Stoos und der Sesselbahn-Talstation Klingenstock beziehungsweise Fronalpstock einrechnen
Text Andreas Staeger Fotos Thomas Senf
Diese Reportage erschien in der Schweizer LandLiebe #4_5/2023. Lesen Sie den ganzen Artikel im E-Paper.