Einblicke ins Unerwartete
Wer von Süden her nach Poschiavo GR fährt, trifft am Dorfeingang auf prächtige Palazzi aus dem 19. Jahrhundert. Darunter das Devon House mit seinem herrlichen Garten. Ein Besuch.
Zwei Dinge, wird erzählt, seien charakteristisch für die Puschlaver und einten diese überall auf der Welt: ihre spezielle Sprache – der italienische Dialekt Pus’ciavin – und ihr Heimweh. In der Tat: «La nostalgia», die Sehnsucht nach dem heimatlichen Tal, scheint die meisten Menschen aus dem südlichsten aller hundertfünfzig Bündner Täler sogleich zu befallen, wenn sie den Berninapass in Richtung Norden überqueren. Egal, wohin es sie verschlägt, wo sie in der Folge arbeiten und leben, ihr Herz bleibt im Valposchiavo. Dorthin kehren sie wenn im mer möglich zurück: in den Ferien, zu Familienfesten, an Feiertagen, mitunter an gewöhnlichen Wochenenden und manchmal für immer. Diese ausgeprägte Heimatverbundenheit ist notabene keine Erscheinung der heutigen Zeit. Schon im neunzehnten Jahrhundert hatte es viele Puschlaver, die Jahre davor aus wirtschaftlichen Gründen in die Welt geschwärmt waren, um ihr Glück zu suchen, zurück zu ihren Wurzeln gezogen. «Sie wussten wohl, dass sie nirgendwo einen schöneren Ort finden würden.» Das sagt Hans-Jörg Bannwart. Und er muss es wissen. Denn auch er war einst in die Welt gezogen, hatte aber stets ein Pied-à-terre im Puschlav behalten und ist vor einigen Jahren ganz zurückgekehrt. Doch davon später. Wir treffen den Juristen in seinem wunderschönen Garten, der sich – getrennt durch eine schmale Strasse – vor seinem Haus erstreckt. Dieses trägt den speziellen Namen Devon House und ist eingebettet in eine Reihe weiterer herrschaftlicher Palazzi mit prächtigen Fassaden: eine einmalige Szenerie, die sich hier eröffnet, die man in einem Bergdorf nicht erwartet, die einen eher in Barcelona, Venedig oder Florenz wähnen lässt. Eine Gesamtanlage, die Geschichten erzählt, die staunen und auf faszinierende Weise Geschichte spüren lässt.
Nadja Athanasiou
VERMÄCHTNIS DER PUSCHLAVER ZUCKERBÄCKER
Doch eins nach dem anderen. Nachdem die Bündner 1512 das Veltlin (I) erobert hatten, entwickelte sich das Puschlav zu einem wirtschaftlich und strategisch bedeutenden Zentrum. Dank regem Handel und Transport wuchs Poschiavo zur zweitgrössten Ortschaft Graubündens. Zudem waren aufgrund eines Abkommens mit der Republik Venedig viele Puschalver in der Lagunenstadt tätig. Als dieses Abkommen dahinfiel und Napoleon 1797 das Veltlin der neu gegründeten Cisalpinischen Republik zuschlug, wurde die lokale Wirtschaft empfindlich geschwächt. Das auf Landwirtschaft und Viehzucht ausgerichtete Tal und dessen Menschen verarmten aufgrund der Landknappheit und des ausbleibenden Handels zusehends, worauf Anfang des neunzehnten Jahrhunderts immer mehr Puschlaver ihre Heimat verlassen mussten, um in Italien, Spanien, Portugal, England oder Russland sowie später auch in Nord- und Südamerika oder Australien eine neue Existenz aufzubauen. Viele dieser Auswanderer waren als Zuckerbäcker und Cafetiers tätig, führten in Metropolen wie Madrid, Sankt Petersburg, Warschau, Odessa, Kiew, Porto oder Lissabon schicke Kaffeehäuser und Patisserien. Die meisten waren sehr erfolgreich, erlangten schnell beachtlichen Wohlstand.
Feines Gespür für Ästhetik: Natürliches, Gestaltetes, Arrangiertes und farbige Akzente bilden eine Einheit. Nadja Athanasiou
STATTLICHE HÄUSER IM FESTLICHEN KLEID
Am Ende ihrer Karriere, manchmal aber schon nach zehn oder zwanzig Jahren in der Fremde, kehrten viele dieser wohlhabenden Emigranten in ihr Bergtal zurück, um dort zu privatisieren. «Dass ihnen die ärmlichen Bauernhäuser zum Wohnen nicht mehr genügten, versteht sich von selbst», erzählt Hans-Jörg Bannwart. Mit dem im Ausland erwirtschafteten Geld bauten sie sich deshalb stattliche Häuser mit städtischen Fassaden und einigem Komfort, an den sie in der Zwischenzeit gewöhnt waren. So entstanden im Zentrum Poschiavos – dem Borgo – die ersten Häuser mit Toiletten, fliessendem Wasser, hohen Räumen, grossen Fenstern und Gärten. «Es entwickelte sich ein neues, gesundes und urbanes Wohnen», erläutert Bannwart.
Jahrelang war Hans-Jörg Bannwart für das IKRK und die Uno in aller Welt unterwegs. Heute ist er Richter. Nadja Athanasiou
Ausgehend von den ersten dieser herrschaftlichen Häuser im Zentrum entstand ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts am ehemals südlichen Dorfrand ein ganzer Strassenzug mit prächtigen Villen. «Spaniolenviertel» wird das Quartier bis heute genannt – angelehnt an die reichen Rückkehrer vor allem aus Spanien – oder manchmal auch einfach nur «Palazzi». Idee und Realisierung des Viertels sind eng mit dem damaligen Podestà Tomaso Lardelli und dem jungen italienischen Architekten Giovanni Sottovia verbunden. Lardelli hatte ursprünglich den Bau einer einfacheren Häuserreihe geplant. Als 1856 damit begonnen werden sollte, traf zufällig Sottovia im Ort ein, änderte die Pläne und baute rund ein halbes Dutzend mehrstöckiger Villen im neoklassizistischen Stil sowie einen Palazzo im vene zianisch-neogo tischen Stil. «Er hat den Häusern ein festliches Kleid gegeben», sagte Podestà Lardelli später.
Die heutigen Gartenparzellen bildeten einst einen zusammenhängenden Park Im Devon-House-Garten lassen sich schöne Trouvaillen entdecken. Im Bild eine als Brunnen verwendete Marmorwanne des ehemaligen Schwefelbades Le Prese am Puschlaversee. Nadja Athanasiou
«Damals führte vor den Häusern noch keine Strasse durch, es gab jedoch einen durchgehenden Vorplatz, der in einen parkartigen Gemeinschaftsgarten für das ganze Quartier überging», erörtert Hans-Jörg Bannwart die zu den Palazzi gehörenden Gärten, die bis heute ein integraler Bestandteil des Gesamtkonzepts sind. Analog zu den Häusern war auch dieser Park im neunzehnten Jahrhundert entstanden. Die Unterteilung in voneinander abgetrennte Parzellen vor den jeweiligen Häusern erfolgte erst später. «Das erkennt man daran, dass die Mittelachsen der Gärten nicht mit jenen der Häuser übereinstimmen, sondern leicht versetzt sind», führt der Besitzer des Devon House aus. Dieses wurde 1864 von Sottovia für einen gewissen Pietro Pozzi gebaut, der mit einem Kaffeehaus in Porto (Por) zu grossem Vermögen gekommen war. 1908 wechselte das Haus in den Besitz der Familie Semadeni, eine weitere Emigrantenfamilie, die in Ilfracombe in der südwestenglischen Grafschaft Devon erfolgreich ein «Swiss Café» betrieben hatte. Hans-Jörg Bannwart konnte das Devon House 2004 erwerben und liess es im Innern, später auch aussen restaurieren.