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Am Fuss des Urgesteins

Der Eigertrail bei Grindelwald macht den berühmten Berner Berg auch für Wanderer zum Erlebnis. Der geschickt im Hang angelegte Pfad verläuft direkt unterhalb der berühmt-berüchtigten Nordwand.

Eigertrail
Im Wechselbad des Lichts: Dunkel ragt die Nordwand des Eigers (3967 m) auf, während Grosse Scheidegg und Wetterhorn (3690 m) bereits im Sonnenschein liegen.

Mit seiner schroffen Nordwand dominiert der 3967 Meter hohe Eiger das Tal von Grindelwald. Vom Balkon seines Chalets hat Adolf Gsteiger freie Sicht auf diesen gewaltigen Felsbrocken. Mit dem Eiger verbindet ihn eine der aussergewöhnlichsten Leistungen, die er in seinem Leben vollbrachte. Der heute 87-jährige Bergler hat während Jahrzehnten die Wanderwege rund um Grindelwald gepflegt und unterhalten. Glanzstück und Höhepunkt seines Berufslebens war ein Pfad, den er in einem Gebiet, in dem es nur Steinwüsten gab, vollkommen neu anlegte. Das ist der Eigertrail, ein gut sechs Kilometer langer Bergweg. Er verläuft dem Fuss des Eigers entlang und bietet grossartige Einblicke in die mächtige Nordwand. Adolf Gsteiger ist ein Naturmensch aus dem Bilderbuch. «Schon als Kind hatte ich abnormal viel Kraft», erinnert er sich. Als Schulbub brachte er es einst fertig, vom Elternhaus durch den Wald direkt auf die Alp hinaufzugelangen, ohne je den Boden zu berühren: Er hangelte sich einfach von einem Tannenast zum nächsten.

Eigertrail

Tosendes Schmelzwasser von der Eigernordwand: Nah am Wanderweg donnert ein Bergbach vorbei. Dort steigen wir das letzte Stück nach Alpiglen ab.

Ein starker Naturbursche

Einen Beruf hat Adolf Gsteiger nie erlernt. Jahrelang war er als Lastwagenchauffeur tätig. «Zwei Fünfzig-Kilo-Zementsäcke vom Bahnwagen auf die Schultern zu laden und in den Lastwagen zu tragen, war für mich nichts Besonderes», sagt er. Später richtete er im Winter Loipen und Eisbahnen her und kümmerte sich im Sommer um die Wanderwege.

Mit Ingenieurberechnungen hat dieser eigensinnige und selbstbewusste Mensch wenig am Hut. Als die Idee aufkam, unterhalb der Eigernordwand einen Bergwanderweg anzulegen, erhielt er den Auftrag, dafür die am besten geeignete Route zu finden. Dabei kam ihm eine Art sechster Sinn für das Gelände zugute: Gsteiger studierte das Terrain von nah und fern – und sah schliesslich die passende Strecke glasklar vor dem geistigen Auge. Darauf griff er zu Pickel und Schaufel und legte den Weg 1997 im Alleingang an. Neununddreissig Arbeitstage benötigte er dafür. Schon vor Tagesanbruch brach er jeweils auf, fuhr mit dem Jeep auf holprigen Alpsträsschen nach Alpiglen und stieg dort nochmals eine Stunde oder mehr zu Fuss zu seiner «Baustelle» hinauf. Abends erwartete ihn in umgekehrter Richtung eine ebenso lange Heimreise. Dazwischen gab es viel harte Arbeit bei Wind und Wetter, in Sturm und Hagel.

Während der Bauarbeiten kam einmal zufällig ein Bekannter vorbei. «Du spinnst!», sagte der mit verwunderter Anerkennung, als er sah, wie hier einer mutterseelenallein in der Wildnis einen Weg baute. «Ja, es stimmt wohl: Normale Menschen würden einen sechs Kilometer langen Wanderweg nicht allein bauen», räumt Adolf Gsteiger heute ein. Warum tat er es trotzdem? «Wenn ich allein arbeitete, konnte ich machen, wie ich wollte», erklärt er.

In dieser Zeit hielten sich immer wieder Gämsen und Rehe in seiner Nähe auf. Dank seiner ruhigen Art gewöhnten sich die Tiere rasch an ihn. Auch Schneehühnern begegnete er. Gelegentlich brachte er ihnen etwas Vogelfutter. Mit der Zeit standen sie morgens bereits am Weg und warteten auf ihn.

Eigertrail

Freie Sicht zum Eiger, dem Grindelwaldner Hausberg: Adolf Gsteiger, der Erbauer des Eigertrails, steht auf dem Balkon seines Chalets in Grindelwald.

Dramen am Berg

In der Geschichte des Alpinismus nimmt der Eiger eine herausragende Stellung ein. Für geübte Bergsteiger birgt er zwar keine besonderen Schwierigkeiten – schon 1858 wurde er erstmals bestiegen. Als unbezwingbar galt jedoch lange Zeit seine fast senkrechte Nordwand. Über den grünen Weiden der Alp Wärgistal ragt sie mehr als anderthalb Kilometer in den Himmel und bietet dadurch einen imposanten, ja monströsen Anblick.

Berüchtigt ist die Eigernordwand wegen der raschen Wetterwechsel. Innert Minuten kann Sonnenschein eisigem Nebel weichen. In den Dreissigerjahren wurden mehrere Anläufe unternommen, sie zu durchsteigen. Zwei dieser Versuche endeten in einem tödlichen Fiasko, andere mussten erfolglos abgebrochen werden – zeitweilig war von einer «Mordwand» die Rede. 1938 gelang den beiden Deutschen Anderl Heckmair und Ludwig Vörg zusammen mit den Österreichern Fritz Kasparek und Heinrich Harrer endlich die Durchquerung.

Und dieser gefährliche Berg soll für unsereins Wandervolk geeignet sein? Natürlich nicht! Der Eigertrail verläuft zwar am Fuss der berühmten Nordwand, hält jedoch stets gebührenden Abstand zu deren Flühen, steinschlaggefährdeten Zonen und anderen heiklen Gebieten. Dadurch macht der Wanderweg diesen einmaligen Berg auch für Nichtalpinisten erlebbar.

Wer möchte, kann für die Anreise die schnelle Variante wählen: Mit dem «Eiger Express» flitzt man im Hui von Grindelwald zum Eigergletscher. Bloss eine Viertelstunde benötigt die Luftseilbahn für die Fahrt von den Blumenwiesen im Talgrund in die hochalpine Wildnis in der Flanke des Eigers. Wir haben uns für eine gemütlichere Variante entschieden, fahren zunächst nach Lauterbrunnen und dann mit der Wengernalpbahn auf die Kleine Scheidegg. Dort steigen wir auf die Jungfraubahn um, die uns zur Zwischenstation Eigergletscher bringt. Das dauert zwar eine halbe Stunde länger, dafür geniessen wir auf der Bergfahrt eine fantastische Aussicht ins Lauterbrunnental und zur Jungfrau.

In der Station Eigergletscher müssen wir den Einstieg zum Eigertrail erst ein bisschen suchen. Der Bahnhof ist Umsteigeort für Ausflügler von Grindelwald aufs Jungfraujoch. Wir durchqueren die Galerie und gelangen an der Seilbahn- Bergstation vorüber durch einen Stollen ins Freie. Vor uns öffnet sich die Sicht ins weite Tal der Schwarzen Lütschine, das von der Männlichen- und der Faulhornkette umschlossen wird. Im Talgrund erkennen wir das weitläufige Siedlungsgebiet von Grindelwald.

Zu Beginn wandern wir durch eine karge Landschaft sanft abwärts. Nur spärliche Büschel von Wildgras vermögen sich in dieser Höhe zwischen dem Geröll zu behaupten. Am Horizont taucht die Spitze des Wetterhorns (3690 m) auf. Nach einer Weile nähert sich der Wanderweg nochmals dem Trassee der Luftseilbahn und steigt gleichzeitig wieder etwas an. Die paar Dutzend Höhenmeter sind die einzige Aufstiegspassage unserer Tour.

Eigertrail

Nach der Wanderung Beine und Seele baumeln lassen: Auf der Sonnenterrasse des Berghauses Alpiglen werden sechs verschiedene Käseschnitten serviert.

Ein Weg als Kunstwerk

Danach biegen wir um eine Hangkante, und die Sicht weitet sich schlagartig: Das Wetterhorn haben wir jetzt in seiner vollen Pracht im Blick. Von nun an geht es durchgehend abwärts. Ein Abstieg von insgesamt fast achthundert Höhenmetern steht uns bevor, wie ein Blick auf die Landeskarte zeigt. Das klingt auf Anhieb etwas abschreckend. Doch die Realität sieht zum Glück anders aus: Adolf Gsteiger hat den Pfad so geschickt ins Gelände gelegt, dass stotzige Passagen einfach mit ein, zwei Kurven überwunden werden. Dadurch gibt es keine übermässig steilen Abschnitte. Das Gefälle ist vielmehr ausgeglichen, sodass wir wunderbar gleichmässig marschieren können, obwohl es abwärtsgeht.

Es gibt auch keine Abzweigungen und Varianten, auf die wir achten müssten. Wir können einfach unbeschwert wandern und die Aussicht ins Tal von Grindelwald geniessen. Erst nach anderthalb Stunden gelangen wir zu einer Verzweigung. Während es geradeaus zur Alp Bonera weiterginge, bleiben wir auf dem Eigertrail, schwenken links ab und steigen nach Alpiglen hinunter. Im Berghaus oberhalb der Bahnstation genehmigen wir uns eine Käseschnitte, danach fahren wir mit der Zahnradbahn nach Grindelwald hinunter. Auf der Rückreise ziehen wir das Fazit aus unserer heutigen Wanderung. Wir haben einen Weg beschritten, der sich perfekt ins Gelände und die Natur fügt. Der Eigertrail ist nichts anderes als ein Kunstwerk.

Eigertrail

Alles so schön glatt hier: Seit ewigen Zeiten formt das Wasser den Kalkstein unterhalb der Eigernordwand.

Steckbrief Eigertrail (Eigergletscher–Alpiglen)

Start und Ziel Mit der Luftseilbahn ab Grindelwald-Terminal (945 m) oder mit der Zahnradbahn ab Lauterbrunnen (797 m) nach Eigergletscher (2320 m), auf dem Eigertrail via Pkt. 1757 nach Alpiglen (1615 m), von dort mit der Zahnradbahn nach Grindelwald Distanz 6,1 km Gehzeit 2 h Höhenmeter 100 aufwärts, 800 abwärts Einkehr Bei der Station Eigergletscher oder in Alpiglen Tipp Eine technisch anspruchsvolle Ergänzung des Eigertrails führt von Pkt. 1757 über die idyllische Alp Bonera (1506 m) nach Grindelwald, Gletscherschlucht (1014 m); zusätzliche Wanderzeit 1 h 30 min.

Text Andreas Staeger Fotos Thomas Senf

Diese Reportage erschien in der Schweizer LandLiebe #4_5/2023. Lesen Sie den ganzen Artikel im E-Paper.

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