Wandern
Alles so schön bunt hier!
Nach der Traubenernte in den Weinbergen beginnt auch im Unterwallis die farbigste Zeit des Jahres. Auf der Wanderung von Martigny nach Saillon brachte die sommerlich anmutende Sonne das Herbstlaub zum Leuchten.
Der Auftakt ist kühl. Unsere Reise in den herbstlich bunten Sonnenhang des Rhonetals beginnt im Schatten: Als wir in Martigny VS aus dem Zug steigen, hat es die Sonne noch nicht über die markante Felskuppe der Pierre Avoi hoch über dem Tal geschafft. Doch die umliegenden Berge gleissen bereits in ihrem Licht. Während wir im Postauto die kurze Strecke nach Branson zurücklegen, wird es um uns schlagartig hell. Beim Aussteigen tauchen wir in die warmen, milden Strahlen der Walliser Herbstsonne.
Branson ist ein schmuckes, von Weinbergen umgebenes Dörfchen. Wir haben uns jedoch entschieden, unsere Wanderung nicht hier zu beginnen, sondern bereits eine Haltestelle früher auszusteigen. Am Pont du Rhône beginnt der «Chemin du Vignoble», der Weinweg. Er führt von Martigny das Rhonetal aufwärts bis nach Leuk. Der Wanderweg ist insgesamt sechsundsechzig Kilometer lang und in vier Etappen gegliedert. Die erste davon haben wir für unsere heutige Tour gewählt.
Nein, hier geht es nicht nach links, wie der Wanderer auf dem Fassadenbild zeigt. Der «Chemin du Vignoble» führt geradeaus. Kurt Reichenbach
Weinlaub in allen Farben
Nach wenigen Schritten lassen wir die Hauptstrasse hinter uns und steigen auf einem schönen Naturpfad bergwärts. Mit jedem Höhenmeter, den wir bewältigen, wird die Sicht weiter. Hinter Martigny erkennen wir den ebenmässig geformten Catogne (2598 m). Nach einer Weile wendet sich der Weg taleinwärts, so dass wir nun unser Tagesziel sehen, den markanten Wehrturm von Saillon auf einem Hügel am Rand des Rhonetals. Weit im Hintergrund ragt das Bietschhorn in den Himmel.
Der Wanderweg zieht sich an langen Reihen von knorrigen Weinstöcken vorbei, die voller Laub in allen Farben sind: Manche der Blätter leuchten noch immer üppig grün, andere haben bereits einen zarten Gelbton angenommen, wieder andere ein kräftiges Rot.
Ein Strässchen führt uns nach Branson. An einer Hauswand entdecken wir ein Wandbild mit einer Dorfbewohnerin, die aus dem Fenster schaut und einem Wanderer den Weg zu erklären scheint. Wir lassen uns von der witzigen Malerei nicht zum Abzweigen verleiten, sondern halten uns an die Wanderweg-Signalisation: Der «Chemin du Vignoble» ist zuverlässig als Schweiz-Mobil-Route Nummer 36 ausgeschildert.
Ausserhalb von Branson lassen wir den Asphalt wieder hinter uns und schwenken auf einen Naturweg ein, der uns durch die Rebberge aufwärtsführt. Die Sonne gewinnt zusehends an Kraft, Jacke und Pullover verschwinden im Rucksack. Weil der «Chemin du Vignoble» nahe am Talboden angelegt ist, kann man ihn praktisch während des ganzen Jahres begehen, selbst im Winter. Das Klima im Unterwallis ist von viel Sonnenschein und milden Temperaturen geprägt. Und falls in den Rebbergen doch einmal Schnee fällt, bleibt er selten lange liegen. Einzig im Hochsommer, wenn es in den steinigen Hängen unbarmherzig heiss werden kann, sollte man diese Route meiden.
Früchte des Südens: An einer Trockenmauer entdecken wir einen Olivenbaum, der eine üppige Ernte verspricht. Kurt Reichenbach
Von Hitzeschüben sind wir auf unserer herbstlichen Wanderung jedoch weit entfernt. Wir geniessen die angenehmen Temperaturen – und machen erstaunliche Entdeckungen. Bei einer Trockensteinmauer steht ein Olivenbaum, der voller Früchte ist. Daneben wächst ein Berberitzenstrauch, dessen leuchtend rote Beeren das satte Grün der Oliven noch besser zur Geltung bringen. Später kommen wir an mehreren Feigenbäumen vorbei. An einigen besonders sonnenverwöhnten Ecken begegnen wir sogar grossen, fleischigen Kakteen mit stachligen Früchten.
Bald erreichen wir mit dem Rast-platz Le Chargeux den höchsten Punkt unserer Tour. Der Picknickplatz ist mit Feuerstelle, grossem Holztisch, Bänken und einem Brunnen bestens eingerichtet. Für eine Mittagsrast ist es noch etwas früh, doch wir lassen uns für eine Weile nieder, um die Aussicht nach Martigny und zu den schneebedeckten Dents du Midi zu geniessen.
Nach dieser Pause beschenkt uns die Tour mit einem überraschenden Intermezzo. Wir lassen die sonnendurchfluteten Rebstockreihen hinter uns und betreten einen Eichenwald. Doch nicht mächtige deutsche Eichen sind es, die wir zu sehen bekommen – es sind Flaumeichen, die sich perfekt an den Boden und das Klima angepasst haben. Der Schatten ihres dichten Blätterdachs taucht den schmalen Wanderweg, der sich zwischen den Stämmen hindurchschlängelt, in romantisches Dämmerlicht.
Umso greller empfinden wir die Sonnenstrahlen, die uns am Ausgang des Waldes empfangen. Wir betreten einen Steilhang, der zu einer halbrunden Arena ausgeformt ist. Die streng horizontal gezogenen Rebenreihen verdeutlichen die Wölbung eindrücklich. Combe d’Enfer heisst das grandiose natürliche Amphitheater auf Französich, Höllenkessel zu Deutsch. Wir können uns lebhaft vorstellen, welch mörderische Gluthitze hier im Hochsommer herrscht und die Öchslegrade des Weins in die Höhe treibt.
Umso erstaunlicher erscheint uns, dass an verschiedenen Rebstöcken noch immer einzelne Trauben hängen, obwohl die Ernte bereits beendet ist. Das haben wir schon vorher bei Branson festgestellt. Hat man die kleinen Büschel zu ernten vergessen? Oder sind sie ein Geschenk für hungrige Passanten? Etwas später begegnen wir einem Weinbauern, der im Rebberg arbeitet. Er erklärt uns, dass es bei Weinstöcken nach der Hauptblütezeit manchmal zu einem zweiten, kleineren Austrieb kommt. Diese Trauben sind erst im Oktober reif und werden zum willkommenen Schmaus für Vögel und vorbeiwandernde Naschkatzen. Anders verhält es sich mit den Trauben, die speziell für eine Spätlese gezogen und mit Netzen vor unerwünschtem Zugriff geschützt werden.
Oberhalb von Fully erleben wir noch einmal eine landschaftliche Überraschung. Kaum lassen wir die Weinberge hinter uns, tauchen wir in einen wunderschönen Edelkastanienwald ein. Auf einer mit Holzschnitzeln bedeckten Finnenbahn durchqueren wir ihn. Komfortabler kann man sich einen Wanderweg kaum wünschen. Ab und zu plumpst eine Kastanie zu Boden. Dorfbewohner streifen durch die Selve und sammeln die Früchte vom Boden auf.
Mitten im Wald treffen wir auf einen grossen öffentlichen Picknickplatz. Ein weit ausladendes Dach schützt Tische und Bänke vor Wind und Wetter. Hier gönnen wir uns einen Imbiss aus dem Rucksack und schauen einer Familie zu, die Pfannen mit Kastanien aufs offene Feuer setzt.
Hier steht die Traubenernte erst noch bevor: Rebberg bei Le Chargeux, im Hintergrund der Weiler Tassonières. Kurt Reichenbach
Wie im Paradies
Etwas später, als wir den Weiler Châtaignier durchqueren, erleben wir noch einmal eine botanische Seltenheit. Wir können kaum glauben, was wir sehen. In einem Garten steht tatsächlich ein Granatapfelbaum, der schwer an seinen Früchten trägt. Nun sind wir vollends überzeugt: Dieser Flecken Erde ist von der Sonne total verwöhnt.
Wenig später kommen wir zu einer Trockensteinmauer, aus der verwilderte Traubenstöcke wuchern. Sie hängen voller tiefblauer Beeren, von Bienen umsummt und umschwirrt. Was ihnen schmeckt, wird auch uns nicht schaden, sagen wir uns. Wir greifen zu, stärken uns mit den köstlich süssen Früchten und wähnen uns im Paradies.
Schliesslich erreichen wir den Canal de Gru. Der Turm von Saillon dient uns als Richtschnur. Wir kommen ihm zusehends näher und steigen den Hügel zu ihm hinauf. In die Flanke der Anhöhe schmiegt sich der alte Dorfkern von Saillon, wo unsere überraschungsreiche Wanderung endet. In einem hübschen Gartenrestaurant lassen wir sie ausklingen.
STECKBRIEF «Chemin du Vignoble», Etappe 1
Start und Ziel Mit dem Postauto von Martigny nach «Branson, Pont du Rhône» (459 m), via Branson (503 m) und Place du Chargeux (621 m) zum Kastanienwald von Fully (565 m); anschliessend über Mazembroz (473 m) und Saillon (509 m) nach «Saillon, Collombeyres» (466 m) Distanz 12,4 km Gehzeit 3 h 40 min Höhenmeter 470 aufwärts, 460 abwärts Einkehr In Saillon Tipp Im Kastanienwald von Fully stehen grosse Picknickplätze für eine Rast zur Verfügung.
Text Andreas Staeger Fotos Kurt Reichenbach
Diese Reportage erschien in der Schweizer LandLiebe #7/2023. Lesen Sie weitere inspirierende Wanderreportagen im E-Paper.