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Telemarkada

Telemark – Hoch die Ferse, runter das Knie

Der vor 150 Jahren in Norwegen kreierte Telemarkschwung hat heute wieder einen festen Platz in der Schneesportszene. Und verlor eines nie: die Nostalgie, Tradition und Gemeinschaft, die man mit ihm verbindet. Ein Besuch in Nara im Bleniotal TI, wo das Skifahren mit freier Ferse zelebriert wird.

Paola Toschini beim Telemark im Bleniotal TI
Mit dem alten Material und in weichen Lederschuhen ist die Abfahrt für Paola Toschini (vorne) und auch für alle anderen nicht ganz einfach.

«Aiuto, aiuto! Hilfe, Hilfe!», hallt eine helle Frauenstimme quer über die Piste und lässt dem Hilferuf erst einen Kraftausdruck, dann ein Kichern folgen. Die Notlage ist also nicht ganz ernst, hier scheint mehr Gaudi zu sein als effektiv Gefahr zu herrschen. «Madonna!», tönt es alsbald von da und dort am Hang, wo sich eine Schar sonderbarer Gestalten tummelt. In Knickerbocker und flatternden Röcken kommen Männer und Frauen auf alten Holzski über die Krete geflitzt – mal elegant-rasant, mal schlitternd, rutschend und entsprechend fluchend oder lachend. «Heute ist es schwierig», erklärt Hans Bandi. Wenn die Schneeunterlage so dünn und hart sei, griffen Bretter ohne oder mit schlechten Kanten kaum, fügt jener Mann an, der vor fast dreissig Jahren die Basis für das Spektakel legte. Doch davon später und alles schön der Reihe nach. Nara weit oberhalb von Leontica im Bleniotal. An diesem prächtigen Wintertag herrscht auf den sonnigen Terrassen des kleinen Skigebiets im nördlichen Tessin der Ausnahmezustand. Oder präziser: Es ist Telemarkada. Und das bedeutet, sich zu kleiden wie zu Grossvaters Zeiten und den ganzen Tag mit antiquarischem Material den Skilift rauf- und die Hänge runterzufahren – viel Nostalgie und Tradition, aber auch eine geteilte Leidenschaft für eine spezielle Sache: für Telemark oder Telemarking nämlich, für die alte Skitechnik unserer Vorfahren, die auch Freeheeling oder Skifahren mit freier Ferse genannt wird. Und dazwischen wird getrunken, gegessen, gefeiert, gesungen und getanzt. Bis tief in die Nacht hinein.

Sessellift im Skigebiet Nara

Hinauf ins Glück: Wie anno dazumal gekleidete Teilnehmer der Telemarkada fahren ins Skigebiet Nara. Selbst der Sessellift mutet nostalgisch an.

Telemark-Truppe vor Haus

Frauen und Männer in stilechten Kostümen posieren fürs Erinnerungsfoto. Im Norwegerlook gekleidet und ganz rechts aussen Hans Bandi.

Eine ganze Schar nostalgisch gekleideter Skifahrerinnen und Skifahrer aus dem Bleniotal ist an diesem sonnigen Tag hinauf ins Skigebiet gekommen. Aber auch andere Tessiner sowie Freunde und Interessierte aus der Deutschschweiz hat es nach Nara gezogen. «Auch wenn es auf der eisigen Unterlage nicht einfach ist, in weichen Lederschuhen und auf Holzski schöne Telemarkschwünge zu zeigen und von uns mehr im Stemmbogen runterrutschen als in guter Technik, ist es trotzdem faszinierend, alte Zeiten aufleben zu lassen.» Das sagt Paola Toschini. Seit es die Telemarkada gibt, ist die Keramikerin aus Lottigna mit von der Partie und trägt jedes Jahr wesentlich dazu bei, dass die Teilnehmenden im nostalgischen Look daherkommen. «Man findet in fast keinen Brockenhäusern mehr Kleider aus früheren Epochen, deshalb schneidere ich sie selber», sagt die kreative Frau. Für diese Austragung habe sie zehn Röcke und lange Unterhosen mit Rüschen genäht. Vor allem für junge Frauen, die zum ersten Mal teilnehmen wollten. Fünf Freunde waren es, denen Anfang der Nullerjahre die Idee für dieses spezielle Happening gekommen war. 2003 organisierten Lorenzo Arcioni, Flaviano Jacmolli, Georgio Ceresa, Stefano Beretta und Francesco Toschini die erste Telemarkada im Bleniotal, die – sofern genug Schnee lag – seither jedes Jahr durchgeführt worden ist. Die Tessiner Kumpels hatten davor zusammen den J+S-Leiter-Kurs Telemark absolviert. Der alten Skitechnik, die in den 1980er- und 1990er-Jahren hierzulande ein Revival erlebt hatte und bis heute – mit moderner Ausrüstung natürlich – vor allem Freerider und Tiefschneefans begeistert, waren sie indes schon länger verfallen.

Paola Toschini an der Nähmaschine

Paola Toschini näht bei sich zu Hause aus alten Militärdecken warme Röcke für die Frauen.

Francesco Toschini mit alten Skis

Ein langer Tag steht bevor: Gründungsmitglied Francesco Toschini ist bereit für die Telemarkada.

Ähnlich wie die Snowboard-Community in ihren Anfängen bilden auch Telemarker eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft, in der es neben dem Sport auch um viel Tradition, Geschichte, Nostalgie und Geselligkeit geht. Deshalb gibt es auch in mehreren Regionen der Schweiz und in anderen Alpenländern, wie beispielsweise Italien, Österreich oder Frankreich, neben Wettkämpfen mit modernem Material auch Nostalgieveranstaltungen: allen voran die internationale Skieda in Livigno (I), die jeweils gegen zweitausend Teilnehmerinnen und Teilnehmer anzog, 2019 aber zum letzten Mal stattgefunden hat.

Holzskis im Schnee

Hommage an alte Zeiten und wohltuende Langsamkeit: Stillleben mit Holzski der Grossväter.

«Mutter aller Skischwünge»

Doch was ist eigentlich Telemark genau? Was ist speziell an dieser Fahrtechnik? Der Telemarkschwung ist sozusagen der Urschwung, die «Mutter» aller Skikurven. Als Erfinder gilt der norwegische Bauernsohn Sondre Auersen Norheim aus Morgedal in der Provinz Telemarken, daher der Name. Der 1825 geborene Norweger war einer der besten Skifahrer und Skispringer seiner Zeit. In den Sechzigerjahren seines Jahrhunderts gewann er ein wichtiges nationales Rennen, nachdem er offenbar schon den zweihundert Kilometer langen Anfahrtsweg von seinem Heimatdorf grösstenteils per Ski zurückgelegt hatte. Das Material dafür hatte er selber gebaut. Seine Idee war, sich nur mit der Fussspitze mittels einer stabilen Bindung am Ski zu befestigen und dadurch eine freie Ferse und viel Bewegungsspielraum zu haben. Dieser ermöglicht, sich beim Hinunterfahren auf dem kurveninneren, bergseitigen Ski niederzuknien, indem die Ferse des entsprechenden Fusses in die Höhe gehoben und der Talski nach vorne geschoben wird. Diese sogenannte Ausfallschritt-Schwungtechnik, die ein wenig aussieht, als würde man einen Knicks machen, verbreitete sich in der Folge auf der ganzen Welt, bis sie ab Ende der 1950er-Jahre durch die Weiterentwicklung des Materials und vor allem durch die Einführung fixer Skibindungen und der damit verbundenen parallelen Skitechnik wieder verschwand.

Die nächste Telemarkada findet vom 26. bis 27. Februar 2022 statt. Mehr Infos

Text: Corinne Schlatter
Dieser Artikel erschien in der Schweizer LandLiebe #8 Januar/Februar 2020. Lesen Sie den ganzen Artikel im E-Paper

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Stichworte: Reportage