Weisses Gold
Stutenmilch aus dem Entlebuch LU
Bei Bauernfamilie Furrer dreht sich vieles um Pferde. Sie werden vor den Wagen gespannt, geritten oder zum Holzrücken eingesetzt. Und einige werden sogar gemolken: Stutenmilch aus dem Entlebuch – eine exklusive Spezialität.
Für die Furrers beginnt der Tag frühmorgens, weit vor Sonnenaufgang. Es ist noch nicht fünf Uhr, wenn Sandra, 39, schon im Stall hantiert, zu füttern und zu misten beginnt. Zuerst bei den Pferden, dann bei den Kühen und Kälbern. Ihr Mann Jakob, 42, kümmert sich derweil ums Jungvieh, um d Guschti. Tag für Tag, jahrein, jahraus gibt es viel zu tun auf dem Hof, denn auch die Kinder müssen versorgt sein. «Sie gehen um sieben aus dem Haus und zur Schule. Davor brauchen sie Zmorge und Betreuung», sagt die Mutter. «Es ist stets etwas turbulent, bis alle alles beieinander haben. Danach kommt dann aber meine Zeit.»
Die Freibergerstuten Carina mit ihrem Fohlen Cindy (links) und Jenny mit Fohlen Josy verbringen den ganzen Tag auf der Weide. Die Fohlen können trinken, wann immer sie wollen. Remo Inderbitzin
Wunderschönes «Puure»
Jakob und Sandra Furrer sind Landwirte. Auf dem Lärboden oberhalb von Romoos im Entlebuch LU, inmitten der saftig grünen Hügelausläufer des Napfs, führen sie den Bergbetrieb, auf dem Jakob schon aufgewachsen ist. Er hilft mit, wann immer er kann – Holzen, Mistführen, Zäunen, Heuen und andere anstrengende Arbeiten mehr.
Für die ganze Familie würde das Einkommen aus der Landwirtschaft aber nicht reichen, deshalb arbeitet er zusätzlich neunzig Prozent auf dem Bau. Weil Sandra auch eine landwirtschaftliche Ausbildung absolviert hat, ergab sich dies, nachdem sie 2004 hierhergezogen war. «Es ist manchmal streng», sagt sie. «Aber Puure ist wunderschön.»
Familienbande: Jakob und Sandra Furrer mit ihren Kindern Tamara (rechts), Chantal (hinten rechts), Köbeli (Mitte links) und Lukas (vorne). Remo Inderbitzin
Innovation und Gespür
Früher, als Jakobs Eltern den Hof noch führten, setzten sie auf Milchkühe und Mastschweine. Die Käserei war nahe, später ging Jakob im Sommer jeweils auch z Alp. Doch die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen die Agrarpolitik, die Vorschriften, die Anforderungen bezüglich Direktzahlungen – ja, das ganze Umfeld. Für kleine Betriebe wie den Lärboden, wo das Land an stutzigen Hängen liegt und es kaum ein ebenes Stückchen gibt, ist es nicht einfach, ein einträgliches Betriebskonzept zu erarbeiten, zu überleben. «Man muss innovativ sein, Ideen haben, Nischen finden und sich verschiedene Standbeine aufbauen», erklären die Furrers. An Innovation fehlt es ihnen nicht. Dank Erfinder- und Unternehmergeist sowie einem Gespür für die Strömungen unserer Zeit bewirtschaften sie heute fünfundzwanzig Hektar eigenes und gepachtetes Land mit Wald-, Naturschutz-, Heu- und Weideanteilen.
Auf Letzteren lebt eine Herde Mutterkühe mit Kälbern, Jungvieh sowie ein halbes Dutzend Freibergerpferde. Es sind denn auch Letztere, die für eine nicht alltägliche Einnahmequelle sorgen. Im Frühling und Sommer werden nämlich die Stuten gemolken. Die Milch wird für Trink- und Badekuren portioniert, ein kleiner Teil wird zu Kosmetikprodukten verarbeitet. «Mein Mann und ich waren schon immer begeisterte Rösseler», sagt Sandra Furrer. «Die Idee, die Pferde nicht nur zum Zeitvertreib – das heisst zum Fahren, zum Reiten oder für Wettkämpfe im Holzrücken zu halten –, sondern auch als Nutztiere, spukte Jakob schon länger im Kopf herum», erinnert sie sich. 2006 machten sie erste Melkversuche mit Mädi, der liebenswerten Stammmutter ihrer Freibergerzucht, und einer zweiten Stute. Das Experiment gelang, worauf sie die Gewinnung und den Vertrieb von Stutenmilch zum kleinen, feinen Betriebszweig ausbauten.
Behutsam stülpt Sandra Furrer die Melkbecher über die Zitzen von Carinas Euter. Die sechsjährige Freibergerstute lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Ihr Fohlen Cindy schaut neugierig zu. Remo Inderbitzin
Zentralasiatische Tradition
Seit der Antike wird der Stutenmilch eine nährende, stärkende, erneuernde und heilende Wirkung nachgesagt. Im alten China galt der «göttliche Nektar» als Wundermittel. Die ägyptische Königin Kleopatra pflegte derweil in der Milch von Pferde- oder Eselstuten zu baden, um ihre Schönheit zu erhalten. Und Jahrhunderte später soll sich Kaiserin Sisi täglich ein Glas des wertvollen Getränks genehmigt haben. Aber nicht nur Kaiserinnen und Königinnen setzten auf das «weisse Gold», wie das Naturprodukt mitunter genannt wird. Auch bei den Hirten- und Reitervölkern gilt es von alters her als Nahrungs-, Heil- und Genussmittel. In den Berichten des griechischen Geschichtsschreibers Herodot kann nachgelesen werden, dass sich die Skythen – das sind Reiternomaden, die ab dem achten Jahrhundert vor Christus die Steppen im heutigen Südrussland und der Ukraine bevölkerten – mit der Herstellung fermentierter Stutenmilch auskannten. Und in den Reiseberichten Marco Polos aus dem dreizehnten Jahrhundert erfährt man von der Verwendung von Stutenmilch bei den Mongolen. So soll Dschingis Khan zur Versorgung seiner Krieger stets eine Herde von Stuten mit Fohlen mit sich geführt haben.
Die frische Milch wird umgefüllt, damit sie portioniert und tiefgefroren werden kann. Tamara hilft ihrer Mutter bei der Arbeit in der Milchküche. Remo Inderbitzin
Kirgisisches Nationalgetränk
Auch bei anderen zentralasiatischen Pferdevölkern wie den Kirgisen, Kasachen, Usbeken usw. ist Stutenmilch ein zentrales Grundnahrungsmittel – bis heute. Um die Milch haltbar zu machen, wird sie zum Kumys vergoren. In Kirgistan ist dieses fermentierte, leicht alkoholhaltige Elixier eine Art Nationalgetränk, und die Kasachen verdanken ihm, wie sie sagen, ihr langes und fröhliches Leben. Früher stellten die Reiternomaden Kumys offenbar her, indem sie frisch gemolkene Stutenmilch in Lederbeutel füllten, den Inhalt mit Milchsäurebakterien und Hefe aus altem Kumys anreicherten und die Beutel auf den Rücken der Pferde schnallten.
Text: Corinne Schlatter
Dieser Artikel erschien in der Schweizer LandLiebe #2 Mai/Juni 2020. Lesen Sie den ganzen Artikel im E-Paper.