Freiheit im Herzen
Fleissige Helfer: Berberpferde im Berninagebiet
Während der Sommermonate leben im Berninagebiet, Graubünden, gut dreissig Berberpferde freiheitlich im naturnahen Herdenverband. Dabei tragen sie zur Pflege der Alpweiden bei.
Pferde am Fuss des Cambrena-Gletschers
Karg ist es hier oben, schroff und einsam. Welch bizarre Formen die Felsen und der Gletscher doch bilden – eine archaische Landschaft, die durch ihre herbe Schönheit berührt. Hier ist die Stille daheim, nur leise hört man den Wind, wie er sanft über die Grashalme streift und melodiös durch die Felsritzen pfeift. Doch dann durchbricht ein Schnauben die Ruhe – jenes unverkennbare Geräusch, das entsteht, wenn ein Pferd die Luft kräftig durch die Nüstern bläst. Und tatsächlich: Plötzlich sind da überall Pferde – dunkle, helle, graue, fast weisse, fuchsfarbene, braune. Eins nach dem anderen taucht hinter einer Kuppe auf, schreitet gelassen, aber zielstrebig über das trockene Weideland. Alsbald hält die Gruppe wie auf Kommando inne, einige Tiere senken den Kopf, beginnen zu grasen. Andere derweil beobachten neugierig die Wanderer, die an diesem Sommertag auf die hochgelegene Weide am Fuss des Cambrena-Gletschers gestiegen sind. Die Szenerie ist magisch, beglückend. Aber irgendwie auch unwirklich.
Für Pferde ist Flucht die erste Option bei Gefahr. Einige der Al-Canton-Stuten beobachten das Geschehen aufmerksam und neugierig. Würde die Situation brenzlig, wären sie bereit, aus der Gefahrenzone zu flüchten. Katrin Stoll & Sören Pajewski
Voller Lebensfreude prescht das Hengstfohlen Fareed Al Canton im Galopp dahin. Er ist der Sohn der Leitstute Jeannette und hier rund fünf Monate alt. Katrin Stoll & Sören Pajewski
Seit 4000 Jahren kultiviert
Die so freiheitlich herumziehende Herde gehört dem Kräuterbauern- und Pferdezüchter-Paar Claudia Lazzarini und Elmo Zanetti aus Le Prese im Val Poschiavo GR. Die eleganten Tiere mit den ausdrucksstarken Köpfen sind echte Berber. Das ist jene aus Nordafrika stammende Pferderasse, die weit in die Frühgeschichte der Domestikation des Pferdes durch den Menschen, bis ins zweite Jahrtausend vor Christus, zurückgeht und als die am längsten kultivierte Rasse schlechthin gilt. Doch davon später. Gut zwei Dutzend Stuten – einige davon mit Fohlen, andere halbwüchsig im Teenageralter – bilden besagten Herdenverband. In den Sommermonaten streift diese aussergewöhnliche Gruppe auf verschiedenen extensiv bewirtschafteten Weiden der grossflächigen Alp Bondo und einigen kleineren Alpen im Berninagebiet herum. Möglich macht dieses naturnahe, urtümliche Leben eine spezielle Vereinbarung zwischen den Besitzern der Tiere und dem Puschlaver Landwirt Otmaro Beti. Dieser hat die Alpen gepachtet und sömmert auf dem insgesamt 1500 Hektar grossen Gebiet zwischen 1500 und 2300 Metern über Meer jeweils mehrere hundert Mutterkühe mit Kälbern, einige Milchkühe sowie Jungvieh. «Eine Win-win-Situation für alle», sagt er. Denn eine abwechselnde Beweidung von Grasland durch Kühe und Pferde hat positive Effekte. «Die Alp wird dadurch gepflegt», fügt Beti an. So gesehen verbinde seine Zusammenarbeit mit Claudia Lazzarini und Elmo Zanetti traditionelle Alpwirtschaft mit landwirtschaftlicher Innovation, ergänzt der Älpler, der – als Gegenleistung für die Weidepflege durch die Pferde – die wechselnden Gebiete einzäunt und die Herde täglich kontrolliert.
Hier geht es zum Artikel über Otmaro Beti und die Zeit, die er auf der Alp Bondo verbringt.
Elmo Zanetti und Claudia Lazzarini haben die Stutenherde auf die Sommerweide gebracht und beobachten sie. Emmya sucht noch ihre Nähe. Daniel Rihs
Nischen als Chance
Innovation – das ist in der Tat das zentrale Schlagwort, mit dem das Leben und Wirken von Claudia Lazzarini und Elmo Zanetti wohl am treffendsten beschrieben werden kann. In der südlichsten Ecke des Kantons Graubünden liegt ihr Hof, den Zanetti vor Jahren von seiner Mutter übernommen hat: Al Canton – zu deutsch: in der Ecke. Dort haben der Agronom ETH und die promovierte Juristin im Lauf der letzten zwanzig Jahre mit Ideenreichtum, Knowhow, Mut, Beharrlichkeit und dem Glauben an die Chance von landwirtschaftlichen Nischen den einstigen Mutterkuhbetrieb aufgegeben und eine Kräuterproduktion aufgebaut. Nach biologischen und ressourcenschonenden Grundsätzen kultivieren sie über dreissig Kräutersorten und verarbeiten diese vor Ort mit grosser Sorgfalt zu exquisiten Tees, die sie unter dem Namen «Al Canton» vermarkten.
Alle müssen anpacken: Elmo Zanetti, Tochter Sofia (Mitte) und Mitarbeiterin Giada transportieren frisch geschnittene Agastache mit einem grossen Tuch. Zu Hause auf dem Betrieb werden die Duftnesseln getrocknet und verarbeitet. Daniel Rihs
Kräuter: Traditionelles und Rares
Auf den Feldern in der fruchtbaren Ebene im Tal und den sonnigen Terrassen an den Hängen des Puschlavs gedeihen traditionelle Kräuter wie verschiedene Minzen und Melissesorten, Thymian, Verveine, Frauenmantel, Salbei, Majoran. Neben den Klassikern werden aber auch Raritäten wie Mexikanische Duftnesseln (Agastache mexicana) oder Shiso (Perilla frutescens) sowie Blütenpflanzen wie Rosen, Malven oder Ringelblumen angebaut. Die Stiele und Bruchstücke von Blättern, die beim Entblättern und Trocknen der rund vier bis fünf Tonnen geernteten Kräuter zurückbleiben, werden während der Wintermonate an die Berberpferde verfüttert. Diese leben in der kalten Jahreszeit in den Laufställen und auf den Paddocks rund um den Hof im Weiler Cantone – ein spezieller Kreislauf, der sich auf diese Weise eindrücklich schliesst.
Text: Corinne Schlatter
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