Indemini, TI
Das ist das abgelegenste Dorf der Schweiz
Die abgeschiedenste Siedlung der Schweiz bietet alles, wonach sich die Menschen heute sehnen. Trotzdem stirbt Indemini aus. Wer sind die zweiundzwanzig Verbliebenen in dieser vergessenen Idylle? Eine Woche zu Besuch.
Kurven, Kurven, Kurven
Es heisst, wer mit dem Postauto im Tessiner Bergdorf Indemini ankomme, wolle nur noch eines tun: dankbar den Chauffeur umarmen und ein Halleluja auf dessen Fahrkunst anstimmen. Die Reise in die abgelegenste Ortschaft der Schweiz ist ein steiles Abenteuer voller Kurven, Kurven, Kurven. Einem Korkenzieher gleich schraubt und windet sich die Strasse von Magadino am Lago Maggiore den Monte Gambarogno empor – unglaubliche tausendzweihundert Höhenmeter auf den Neggia-Pass (1395 m). Dann auf der anderen Seite der Bergkette wieder vierhundertvierzig Höhenmeter happig abwärts ins Val Veddasca. Zwei Frauen wird übel während der fünfzig Minuten dauernden Fahrt.
Indemini ist das oberste und einzige Schweizer Dorf im Val Veddasca. Der Rest des Tals gehört zu Italien – ebenso der sichtbare Teil des Lago Maggiore. Roland Tännler
Endstation Indemini
Als das Postauto in Indemini (950 m) eintrifft, herrscht unter den Passagieren eine Stimmung wie nach einer Flugzeuglandung. Sie klatschen, lachen erleichtert und rühmen den Chauffeur. «Bravo!» Alle steigen aus. Indemini ist die Endstation, obwohl die Strasse weiterführt. Aber gleich hinter der Kirche verläuft die Landesgrenze zu Italien. Drüben ist eine andere Busgesellschaft zuständig. Um umzusteigen, müsste man zwei Kilometer ins Nachbardorf laufen.
Dann steht man also da, an der Endstation am Rand der Schweiz, und lässt dem Staunen erst mal freien Lauf. Weit und breit gibt es nichts als wuchernde Wälder, abschüssiges Gelände, schwindelerregende Schluchten – und die Sicht auf Monte Tamaro und Monte Lema auf der gegenüberliegenden Talseite. In der Luft hängt der Geruch von Herbst, von Laub, Kastanienbäumen und auch ein bisschen von Moder. Manche sagen, Indemini fühle sich an wie das Ende der Welt. Wer wissen wolle, was Einsamkeit bedeute, solle nach Indemini.
Fausto Domenighetti arbeitet als Postautochauffeur und war lange Gemeindepräsident. Roland Tännler
Indeminis enge und schattige Gassen: Sie wurden originalgetreu mit Granitstein saniert. Roland Tännler
Vom Aussterben bedroht
Trotz Schönheit und Würde droht Indemini bald auszusterben. Lebten einst über vierhundert Menschen hier, zählt man jetzt noch zweiundzwanzig ganzjährige Einwohner. Nur drei davon sind Einheimische. Fast alle Zugezogenen kommen aus der Deutschschweiz. Rentner über siebzig. Die jüngste Person ist sechsundfünfzig. Familien mit Kindern und eine Schule gibt es seit Jahren nicht mehr. Viele Häuser stehen zum Verkauf und finden keine neuen Besitzer. Es braucht Idealismus, um hier zu leben. Ebenso Fitness. Das Gelände ist steil, man muss alle Anschaffungen ohne Auto ins Haus bringen – auch die Möbel. Die einzige moderne Transporthilfe, die es von der Strasse am Dorfrand durch die schmalen Gassen schafft, ist die Motorkarrette.
Die Einheimischen: Orietta und Fausto Domenighetti besitzen und führen das noch einzige geöffnete Ristorante in Indemini. Roland Tännler
Die Einheimischen
Hat Indemini noch eine Chance zu überleben? «Wenn keine neuen Leute zuziehen, wird es früher oder später ein Feriendorf. Oder ein offenes Museum», sagt Fausto Domenighetti, 62, einer der drei verbliebenen Einheimischen. Neue Häuser zu bauen, sei aufgrund der Vorschriften nicht möglich. «Wer ein bestehendes Haus kauft, um ganzjährig bei uns zu leben, muss investieren können. Immerhin haben wir einen guten Steuerfuss.»
Fausto Domenighetti ist Postautochauffeur, Pöstler, Besitzer des Ristorante Indeminese und amtete bis zur Fusion mit Gambarogno vierundzwanzig Jahre als Gemeindepräsident von Indemini. Unter seiner Ägide wurden die alten Gassen für zwei Millionen Franken mit Granitstein originalgetreu saniert, Kanalisation und Wasserversorgung erneuert, das alte Schulhaus in ein Ostello umgebaut. Verlottert oder zerfallen ist im Ort nichts. Vor einem Jahr hat die Swisscom die Häuser ans moderne Glasfasernetz angeschlossen. «Ich hoffe, dass das neue Highspeed-Internet für Leute attraktiv ist, die von hier arbeiten möchten», sagt Domenighetti. «Unsere Lage ist sehr gut. Indemini ist das einzige Dorf der heutigen Grossgemeinde Gambarogno, das ganzjährig Sonne hat.» Früher gab es im Dorf mehrere Gasthäuser. Jetzt immerhin noch das Ristorante Indeminese, das Domenighettis Frau Orietta, 57, führt. Seine ältere Schwester Flora, die ihr Alter nicht verraten möchte, betreibt einen Tante-Emma-Laden und eine von Italienern gut frequentierte Tankstelle. Wegzuziehen, wie all die anderen, habe sie nie in Betracht gezogen, sagt sie.
Der Lehrer: Beat Wüthrich kaufte 1973 seine erste Liegenschaft im Dorf. Seit 2006 lebt er fest hier. Roland Tännler
Die Gewerkschafterin: Rosmarie Brennwalder pflegt mit viel Hingabe ihre vier Gemüsegärten. «In Indemini kann ich mein Konsumverhalten selber bestimmen.» Roland Tännler
Traum der Hippies
Angefangen hat die grosse Entvölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Dorf entleerte sich damals wie auf Knopfdruck. Dann entdeckten in den Sechziger- und Siebzigerjahren junge Aussteiger aus der West- und Deutschschweiz den Ort: Hippies, Künstler, Studenten aus wohlhabendem Haus, die sich vom spiessigen Bürgertum und Establishment abgrenzen wollten. Sie kauften die heruntergekommenen Häuser und bauten sie mit viel Herzblut um. Bald merkten sie, dass Indemini nicht das ersehnte Dolcefarniente bedeutete, sondern viel Arbeit. Sie zogen wieder ab. Wer sind nun also die letzten Mohikaner von Indemini? Gestrandete Hippies? In den Gesprächen stellt sich heraus, dass die meisten wohlsituierte, vitale Senioren sind, die ihren Ruhestand geniessen.
Text: Natascha Knecht
Diese Reportage erschien in der Schweizer BergLiebe #6 Herbst 2020. Lesen Sie den ganzen Artikel im E-Paper.