Bündner Spitzen
Audienz im Spargelschloss in Reichenau GR
In Reichenau GR, in den Auen der Winzerfamilie von Tscharner, wächst der begehrteste Spargel der Schweiz. Schlemmer und Spitzenköche sind vernarrt in ihn. Zu Recht.
Der Schlossherr sitzt am Küchentisch und seufzt. Petrus, dieser launische Haudegen, hat mitten im Frühling noch einmal Winter gespielt. Das heisst: guten Kunden schlechte Kunde überbringen. «Ciao Gion, da isch de Gian-Battista von Tscharner», hört man ihn kurz darauf in sein Handy posaunen. «I han leider e schlächti Nachricht für di.» Kunde Gion hat schon verstanden. Wenn der Schlossherr aus dem bündnerischen Reichenau höchstpersönlich bei ihm anruft, ist es um den Spargel nicht gut bestellt. Das kühle Wetter hat die Ernte reduziert, und nur die Geschwinden, die zuoberst auf der Bestellliste stehen, kommen in den Genuss der edlen Stangen. Diese Glücklichen! Spargel aus Reichenau gilt als der beste im ganzen Land. Weil er viel Aroma und wenig Bitterstoffe habe, wie Spitzenköche schwärmen. Und weil er so zart sei, dass man ihn vom Ende bis zur Spitze roh essen könne, sagt Hansjörg Ladurner, Küchenchef im «Scalottas Terroir» in Lenzerheide. Auch er hat lange auf seinen Spargel gewartet. Die von Tscharners ernten spät – selten vor Ende April. Erst wenn der Frühlingsföhn durchs Rheintal bläst und die Böden erwärmt, rücken sie und ihre Mannschaft aus. Die Felder zu beheizen und die Ernte zu forcieren, wie im Spargelanbau heute üblich, kommt für sie nicht infrage. Die Natur, nicht die Technik, soll über den Erntesegen bestimmen.
Nein, das ist nicht der Herr Pfarrer. Das ist der Schlossherr in seiner Kapelle. Vor vierzig Jahren hat er dort geheiratet. Winfried Heinze
Gleich geht die Post mit ihm ab: Der Reichenauer Spargel wird zu Köchen und Schlemmern in der ganzen Schweiz verschickt. Winfried Heinze
Eigensinnige Stangen
Spargeln haben nicht nur Spitzen – sie haben auch ihren Kopf. Nur dort, wo die Böden locker, sandig und wohltemperiert sind, streben sie wohlfeil in die Höhe. Nasse Füsse mögen sie gar nicht, die Nähe zum Wasser aber ist ihnen recht, und davon hat es in Reichenau, am Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein gelegen, von jeher mehr als genug. Die beiden Flüsse, die früher unreguliert aus der Surselva und von den Höhen des Domleschg ins Tal hinunterstürzten, traten Jahr für Jahr über die Ufer, schwemmten frische, humusreiche Erde auf die Felder und nahmen die alte, verbrauchte mit. So kam die «reiche Au» zu ihrem Namen und Reichenau zu seinem Ruf, ein kleiner Garten Eden zu sein – ein Paradies für Früchte und Gemüse.
Die Spargelpflanzen, so darf vermutet werden, kamen mit den Römern über die Alpen ins Rheintal. Zu Ruhm aber kam der Reichenauer Asparagus officinalis, wie die Botaniker sagen, erst, als Gian-Battista von Tscharner mit dem Anbau auf den familieneigenen Feldern begann. 1975 war er mit seiner Mutter ins Schloss gezogen, um die altehrwürdigen, lange leer gestandenen Gebäude wieder instand zu setzen – und an die Geschichte der Frühlingsdelikatesse anzuknüpfen.
Ein Föhn wird kommen: Gian-Battista von Tscharner ist zuversichtlich, dass der Spargel bald munter spriesst. Winfried Heinze
Freestyle: Der Spargel von Schloss Reichenau spriesst direkt aus dem Boden in die Höhe. Erdwälle sieht man dort nicht. Winfried Heinze
Im Dunkeln munkeln
Schon einmal, um 1900, hatte der Spargel von den Auen des Alpenrheins Furore gemacht. Ein hoher Gast, der an der Schlosstafel dinierte, hatte sich genüsslich an den zarten Spitzen delektiert: Franz Joseph I., Kaiser von Österreich und Gatte von Elisabeth I., besser bekannt als Sisi. Des Kaisers Gastgeber war gleichwohl ein Herr von Geblüt: Alfred von Planta, Minister, Diplomat und illustrer Vorfahr der Familie von Tscharner.
In den hundertzwanzig Jahren, die auf den Kaiserbesuch folgten, ist viel Wasser den Rhein hinuntergeflossen. Ein Alfred von Planta hätte wohl nie in seinem Leben auch nur ein einziges Stängelchen Spargel geschält. Das überliess er dem Personal. Gian-Battista von Tscharner aber sitzt in Jeans und kariertem Hemd am grossen Küchentisch und lässt den guten alten Sparschäler Rex über die frisch geernteten Stangen sausen. Frisch gestochen, würde man andernorts sagen – überall dort, wo der Spargel aus den typischen, ihn vor Sonnenlicht schützenden Erdwällen geschnitten wird. In Reichenau aber spriesst er direkt aus dem Boden in die Höhe und wird, kaum hat er die optimale Länge erreicht, mit einem beherzten «Knack» von Hand geerntet – gebrochen, nicht gestochen. Kniehohe Tunnel mit einem Dach aus schwarzer Folie ziehen sich in Reihen über die Felder und sorgen dafür, dass die Stangen ihren elfenbeinfarbenen Teint bewahren. Obwohl: Ein bisschen Farbe ist erwünscht. Sie ist ein Markenzeichen der Reichenauer Spitzen, gibt dem Gemüse die besondere Würze. Spargel aber, der allzu heftig «gsünnelet» hat, bildet den Pflanzenfarbstoff Chlorophyll und wird in der Folge zünftig grün. Auf die Idee, dunkle Folie zu verwenden, habe ihn einst ein Apotheker aus Laax gebracht, sagt Gian-Battista von Tscharner. Die Methode habe sich bewährt und die Ernte vereinfacht. Auch das Wachstum des Spargels werde beschleunigt, weil die dunklen Planen die Wärme besser speicherten.
Vater und Sohn bei der Arbeit: Dreimal pro Woche wird in den Feldern von Schloss Reichenau Spargel geerntet. Winfried Heinze
Eingangstor mit Winke-Winke-Balkon: Schloss Reichenau wurde zur «schönsten Hochzeitslocation» der Schweiz gekürt. Winfried Heinze
Gefragte Eventlocation
So kommt es, dass wir den kühlen Temperaturen zum Trotz in den Genuss eines Reichenauer Spargelmenüs kommen, von Hansjörg Ladurner in der Schlossküche zubereitet. Der Ort ist dem Spitzenkoch vertraut. Während dreier Jahre, von 1999 bis 2001, hat er im Schlosshotel Adler am Herd gestanden und dem Haus, das zum Anwesen der von Tscharners gehört, zu einem erstklassigen Ruf verholfen.
Bis es an der Zeit war, den kostspieligen Besitz in ein neues, möglichst rentables Unternehmen zu verwandeln. Heute ist Schloss Reichenau eine schweizweit gefragte Eventlocation, wie man auf Neudeutsch sagt. Paare reissen sich darum, in den historischen Räumen Hochzeit zu feiern und in der kleinen, zum Schloss gehörenden Kapelle Ja zueinander zu sagen. Wie Gian-Battista und Anna von Tscharner vor fast einmal vierzig Jahren.
Text: Karin Oehmigen
Dieser Artikel erschien in der Schweizer LandLiebe #2 Mai/Juni 2019. Lesen Sie den ganzen Artikel im E-Paper.