Die ersten Blüten
Winzige weisse Wunder
Im Appenzellerland herrscht Schneeglöckchenfieber. Das Schöne daran: Es ist harmlos. Und faszinierend. Besuch in Stein AR bei Yanik Neff und seiner Galanthussammlung, die zu den grössten Europas zählt.
Manche Gärtner verfallen den Rosen. Andere reisen um die halbe Welt, um seltene Farne zu finden. Oder sie geben Unsummen aus für eine bestimmte Orchidee. Yanik Neff mag es kleiner: Er verehrt das Schneeglöckchen über alles. Der 29-Jährige steuert sein Auto durch die hügelige Appenzeller Landschaft zu einem tunnelförmigen Gewächshaus hinter einem Firmengebäude. Kein lauschiger Ort, kein Platz für einen Garten, aber wer die Tür öffnet, betritt eine eigene Welt. Die Welt eines Sammlers und Züchters mit einer unvorstellbaren Vielfalt. Achthundert Sorten Schneeglöckchen sind hier daheim, strecken ihre grünen Blätter aus der Erde, lassen die weissen Köpfchen baumeln. Und wenn man in die Knie geht, erkennt man: Die Blätter sind nicht einfach nur grün. Mal sind sie kurz, mal lang, mal breit, mal leicht bläulich, mal gefaltet, mal matt, mal glänzend. Und die Blüten sind nicht einfach nur weiss. Manche sind mit Grün oder Gelb durchsetzt, gross, klein, gekreppt, gebauscht, gefüllt oder gezackt.
Daneben stehen die Namensschildchen. Namen, hinter denen sich viele Geschichten verbergen. Etwa die der Galanthus nivalis ‘Green Mile’, einer natürlichen, spontan aufgetretenen Variation, die ein 15-Jähriger 2007 im Garten seiner Eltern in Belgien entdeckte. Die ‘Green Mile’ ist unter Sammlern eine begehrte Rarität. Fünfhundert Euro kostete ein Zwiebelchen, als die Sorte auf den Markt kam. Auch Yanik Neff hat sich die ‘Green Mile’ etwas kosten lassen. Dreihundertsechzig Franken für eine Zwiebel – das war es ihm wert. Und das ist wenig im Vergleich zu den über zweitausend Franken, die 2015 für ein Zwiebelchen von Galanthus plicatus ‘Golden Fleece’ im Internet geboten wurden. Es hat grün-gelbliche Zeichnungen auf den Blütenblättern, die je nach Standort verschieden intensiv sind.
Züchter Yanik Neff greift für ein Schneeglöckchen auch mal tief in die Tasche. Nadja Athanasiou
Weitverbreitete Passion
Neffs Leidenschaft begann vor zehn Jahren im Botanischen Garten St. Gallen. Damals war er noch im Studium als Landschaftsarchitekt und an Pflanzen aller Art interessiert. Er spazierte an den verschiedenen Schneeglöckchen vorbei und erkannte zum ersten Mal, wie unterschiedlich sie sein können. «Ich erinnere mich noch genau an diesen Moment», sagt Neff, «ich war hin und weg.» Zu Hause fing er an, im Internet zu recherchieren. Entdeckte, dass es weltweit zweitausendfünfhundert Sorten gibt und dass die Galanthomanie, die Leidenschaft für Schneeglöckchen, weitverbreitet ist. Vor allem in England, Belgien und Deutschland.Innert kürzester Zeit war auch der damals 19-Jährige angesteckt vom Schneeglöckchenfieber. Was macht diese Pflanze so speziell? «Kaum ist der Schnee weg, blüht sie, dieser frühe Zeitpunkt macht sie besonders.» Aber nicht nur: Das reine Weiss der Blütenblätter und die zum Teil sehr beschränkte Verfügbarkeit einzelner Sorten tragen ebenfalls zur Faszination bei.Die Gattung Galanthus – der Name bedeutet so viel wie Milchblume – besteht aus knapp zwanzig Arten. Sie wachsen in Europa, Kleinasien und im Südwesten Asiens. In unseren Breitengraden ist vor allem die Art Galanthus nivalis verbreitet, die – meist aus den Gärten verwildert – an schattigen und feuchten Standorten wächst. Die ersten Arten und Sorten erwarb Neff über die entsprechenden Netzwerke im Internet. Galanthus elwesii mit den breiten, leicht bläulichen Blättern. Galanthus plicatus, dessen Blätter am Rand gefaltet sind. Galanthus gracilis mit den gedrehten Laubblättern. «Ich mag vor allem die mit unverkennbaren Merkmalen», sagt der Sammler, während er die Blüten einzelner Sorten zwischen die Finger nimmt. Da ist sein liebstes Schneeglöckchen, das ‘Green Mile’, das es ihm wegen des hohen Grünanteils in der Blüte angetan hat. Bei der Sorte ‘E.A. Bowles’ gefallen ihm die grossen Blüten, die wie weisse Kugeln an den Stängeln baumeln. Bei ‘Fatty Puff’ erkennt man die Besonderheit auf den ersten Blick: gekreppte Blütenblätter. «Eine der besten Sorten», sagt er und angelt nach der Blüte eines Schneeglöckchens mit dem Namen ‘Mother Goose’. «Es wächst sehr gut und hat ein unverwechselbares Farbspektrum von Grün bis Gelb und sogar leicht Orange.» Auch Blüten, die sich während des Blühens verändern, mag er. «Zum Beispiel ‘Diggory’. Je länger sie blüht, desto stärker rollt sie ihre Blütenblätter ein. Dadurch wirkt sie immer runder.»
Es gibt sie auch in Gelb: zum Beispiel das Galanthus nivalis ‘Fiona’s Gold’, das mit seinem gelben Stiel, dem gelben Fruchtknoten und den gelben inneren Blüten-blättern besticht. Nadja Athanasiou
Text Sarah Fasolin Fotos Nadja Athanasiou
Dieser Artikel erschien in der Schweizer LandLiebe #1 Winter 2022.
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