Garten
Im kalten Hauch des Frosts
Im Winter, so denkt man, gibt der Garten nicht viel her. Er ist begraben unter Schnee und Eis. Bis im März gibt es aber immer wieder Tage, an denen König Frost die Natur verzaubert.
Wenn in nebligen Nächten der erste Frost die Pflanzen mit einer dicken Schicht Raureif überkrustet, ist die Natur am Morgen aufs Schönste dekoriert: Weisse Kristalle zeichnen die Blattränder nach, die Grashalme werden zu kleinen, filigranen Kunstwerken, und das Wasser im Teich ist durch einen ersten dünnen Spiegel aus Eis von uns getrennt. Eine meist nur kurzlebige Pracht verzaubert Bäume, Sträucher, Halme, Gras und Rasen. Die ersten Strahlen der Sonne, die durch den Nebel brechen, lassen die Eiskristalle aufleuchten wie Edelsteine. Der Garten glitzert und schimmert. Wir erleben ein Wintermärchen, das uns den bisher so vertrauten Garten verfremdet in einem ganz neuen Gewand zeigt: Nichts ist mehr, wie es war, und doch ist es noch der gleiche Garten. Dann beginnen die ersten Tropfen von den Bäumen zu fallen, ganz oben, wo die Sonnenstrahlen schon lange auf die Blätter scheinen, fängt sich der Zauberbann an zu lösen, es schmilzt und taut und tropft, und bald ist der magische Moment vorbei – es ist wieder ein Wintertag, wie es so viele gibt.
Früher Frost: Nach einer kalten Nacht sind Rizinus (rote Früchte links im Bild), Chinaschilf, rote Berberitze und gelbe Rudbeckien vom Raureif überkrustet. Jürgen Becker
SEHNSÜCHTE DER KINDERSEELE
Kinder und alle, die sich noch etwas von der Begeisterungsfähigkeit ihrer Kinderseele bewahrt haben, wünschen sich weisse Weihnachten. Jedes Jahr sind die ersten Schneeflocken, die fallen, ein Versprechen für eine andere Welt. Auf eine sanfte, weisse, stille Welt, die sich langsam, aber stetig ein-hüllt in ihr kaltes, sauberes Winterkleid. Als Erwachsene haben wir oft vergessen, was wir damals so sehnsuchtsvoll herbeiwünschten, aber wir erinnern uns noch der aufgeregten Erwartungen, denn diese stellen sich alle Jahre wieder ein. Erwartungen, die sich um den Duft von Frischgebackenem, die Wärme von knisterndem Kaminfeuer und das Flackern von Kerzen drehten, aber auch um die kleinen Hügel, in die der Schnee die Pflanzen im Garten verwandelte, um die weissen Zipfel auf den Strassenlampen und um die Kissen auf den Ästen der Tannen und Föhren. Wir erinnern uns an das Tanzen der Flocken, an deren Herumwirbeln, an den scheinbar unerschöpflichen Vorrat, den die Kissen der Frau Holle enthielten.Am Morgen stapfen die Eltern durch den Garten, um die Bäume zu schütteln, damit unter den Mengen von nassem Schnee die Äste nicht brechen. Aber nach der ersten frühen Schneeballschlacht ist schon nichts mehr unberührt: Überall sind Fussabdrücke von Mensch und Tier, und bald schon ziehen die Autos und Busse Spuren durch die weisse Pracht. Schon am Mittag bleibt nur noch nasser Pflotsch auf den Trottoirs zurück, der einem die Füsse kalt und nass werden lässt. Wer den Winter für sich allein geniessen will, der muss früh aufstehen.
Der Garten ist dem ständigen Wechsel der Jahreszeiten unterworfen, aber dieser geht relativ langsam vor sich. Im Februar und März beginnen die kleinen Zwiebelpflanzen wie Krokus und Schneeglöckchen den Reigen. Dann scheint die Natur zu bersten vor Blüten und Farben, und unmerklich zieht sich dann die Blüte, immer sporadischer werdend, durch den Sommer. Im Oktober beginnen sich die Blätter zu färben, jeden Tag etwas mehr, aber auch sie lassen sich Zeit, und wir merken kaum, wie sie der erste Wintersturm endgültig davonbläst. Nur der Winter ist imstande, in wenigen Stunden einer Nacht den Garten, ja die ganze Natur in eine völlig andere Szenerie zu verwandeln, sei das nun mit einer weichen, glitzernden Schneedecke, die alles einhüllt, oder mit einem eisigen Panzer, der sich als Reif über die Pflanzen legt.
Vielleicht schützt sein Helm den Herbst-Eisenhut (Aconitum carmichaelii ’Arendsii’) vor dem frühen Frost. Jürgen Becker
BESONDERS REIZVOLLES BILD
Wer einen Garten konzipiert, sollte bei der Anlage schon daran denken, dass auch die kalte Jahreszeit eine Saison für den Garten ist. Und das sollte man auch bei der Auswahl der Pflanzen einkalkulieren. Denn gerade im Winter fehlen uns der Garten, der Wald und die Wiesen für unser seelisches Wohlbefinden. Wenn man den relativen Stillstand der Natur in der kalten Jahreszeit von Oktober bis März überblickt, so ist das insgesamt eine lange Saison – eben das Winterhalbjahr. So lange können und wollen wir nicht auf den Garten verzichten. Daher sind wir umso dankbarer, wenn das Spiel von Raureif, Schnee und Eis mit unseren Pflanzen hie und da ein besonders reizvolles Bild ergibt.Man kann dem etwas nachhelfen mit der Wahl der Pflanzen, aber vor allem damit, dass man im Herbst den Garten nicht mit Schere, Säge und Laubbläser zum klinisch sauberen und aufgeräumten Bereich macht. Wo soll denn der Reif seine Pracht entfalten, wenn alle Gräser weggeschnitten sind? Wenn die alten Blütendolden und die letzten Rosenknospen im Kompost landeten und die verholzenden Früchte und die farbigen Zweige im Herbst dem Laubfeuer zum Frass vorgeworfen wurden?
Text Andreas Honegger Fotos Jürgen Becker
Diese Reportage erschien in der Schweizer LandLiebe #6 Januar/Februar 2016. Lesen Sie den ganzen Artikel im E-Paper.